Tag 18 der Passage von Mexiko nach Französisch Polynesien

Noch mehr Rätsel der Seefahrt

Im Klassenraum meiner Grundschule (auf dem platten Land im mittleren Niedersachsen) war eine Kompassrose an die Zimmerdecke gemalt. und entsprechend war eines der ersten Gedichte, das wir Kinder auswendig lernen sollten:

Im Osten geht die Sonne auf,

im Süden nimmt sie Mittags Lauf,

im Westen wird sie untergehen,

im Norden ist sie nie zu sehen.

Quasi Astronavigation für Sechsjährige. Und fortan meine maßgebliche Hilfe bei Wanderungen oder eben sonst unterwegs, wenn man nicht gerade wie auf dem Boot einen Kompass im Blickfeld hat. Einfach, verlässlich. Ein Grundpfeiler der Orientierung. Bis heute.

Und dann das: wir segeln in südliche Richtung. Die Sonne geht zwar weiter pflichtbewusst im Osten auf und im Westen unter. Aber am Mittag wandert sie hoch stehend im Norden hinter Floras Heck durch. Im Süden ist sie nie zu sehen.

Dieser Äquator kennt doch Narreteien, die es locker mit Till Eulenspiegel aufnehmen können. Kaum überquerst Du die Linie, ist irgendwie alles verdreht.

Wobei, direkt am Äquator war eigentlich noch alles gut.

Jetzt ist Winter auf der Nordhalbkugel, mithin Sommer in der südlichen Hemisphäre. Da steht die Sonne ja nicht senkrecht über dem Äquator, sondern weiter südlich zwischen der Linie und dem Wendekreis des Steinbocks (Tropic of Capricorn) auf etwa 23,4 Grad südlicher Breite.

Wir sind inzwischen auf 15 Grad südlicher Breite angekommen und dass die Sonne trotzdem nördlich von uns durchgeht bedeutet, dass sie sich seit ihrem südlichsten Stand am 21. Dezember schon wieder ganz schön weit Richtung Äquator hochbewegt hat, wo sie dann zur Tag- und Nachtgleiche am 21. März senkrecht über der Linie stehen wird.

Hm. Vielleicht sollten wir uns doch mal intensiver mit echter Astronomischer Navigation (und dem an Bord befindlichen Sextanten) beschäftigen. Die ist uns nämlich noch immer ein echtes Rätsel. Aber das Buch für den Einstieg dazu hab ich schon mal rausgesucht.

Etmal wegen der bewussten „Handbremse“ lediglich 88 sm, gesamt auf dieser Passage 2.513 sm, verbleiben rechnerisch noch bis Gambier 787 sm. Allerdings: unser Plotter weist bis zum Wegepunkt der Ansteuerung des Südwestpasses in die Gambier „nur“ noch 579 sm aus, wir haben also mit unserer Route bisher doch deutlich weniger Umweg gefahren als zunächst kalkuliert.

Essen: Hawaiianische Poke-Bowl mit Quinoa, mit Wasabi angemachtem Jicama (mexikanischer Rettich), Rotkohl in Sojasauce und Sweet Chili Möhren. Den Skipjack-Tuna hat Wiebke in Ingwer-Sesam-Sojasauce mariniert.

Die ruhige und extra langsam durchsegelte Nacht habe ich dazu genutzt, mal wieder ein Roggen-Vollkornbrot mit Sonnenblumenkernen (hatte Wiebke sich gewünscht) zu backen.

Tag 17 der Passage von Mexiko nach Französisch Polynesien

Rätsel der Seefahrt

Ein Blick in die Schüssel. 🚽 Die Erde ist kaputt. Oder zumindest das Meer. Die Schwerkraft? Die Corioliskraft? das Wasser fließt in einem rechtsdrehenden Strudel ab. Darf das das? Wir sind doch jetzt auf der Südhalbkugel. Der Einfluss auf den Abfluss: das muss doch andersrum! Wir alle haben in Erdkunde irgendwann in grauer Vorzeit gelernt, dass sich Wirbel auf der Nordhalbkugel rechtsdrehend bilden, auf der Südhalbkugel linksdrehend. Eben wegen der Corioliskraft! Denn durch die Eigendrehung der Erdkugel dreht sie sich unter einem fluiden Medium wie Wasser oder Luft weg. Da sich die unser Planet nach Osten dreht, werden Hochdruckgebiete und Wasserwirbel in der nördlichen Hemisphäre rechtsdrehend abgelenkt, auf der Südhalbkugel dagegen linksdrehend. Tiefdruckgebiete entsprechend umgekehrt. Und doch: nicht in Floras Schüssel. Zur Sicherheit noch mal im Waschbecken ausprobiert: nein, auch das macht, was es will. Die Corioliskraft ist trotzdem nicht kaputt. Vielmehr sind die Wirbel in Floras Becken und Schüsseln einfach viel zu klein, um von dieser Kraft maßgeblich beeinflusst zu werden. Andere Faktoren, wie etwa die Schiffsbewegung oder auch Unregelmäßigkeiten der Form und der Oberfläche haben einen größeren Einfluss auf den Abfluss und sorgen für eher zufällige Wirbelrichtung.

Ein anderes Rätsel: warum sind wir eigentlich so langsam? Wir haben allerbeste Segelbedingungen, Traumwetter, ruhige See. Und trotzdem dödeln wir bei 9 kn Wind mit der Fock und zwei Reffs im Groß herum, laufen derzeit nur noch zwischen vier und fünf Knoten bei 60 Grad am Wind. Ist der Code0 schuld? Das wäre doch eigentlich sein Kurs?

Liegt irgendwie nahe und tatsächlich habe ich heute Vormittag auf dem Vorschiff noch einmal versucht, die Lasching zu optimieren. Aber nur, weil das Segel jetzt etwas schwieriger aufzurollen ist und manchmal durchrutscht. Kein Grund, es nicht zu setzen. Und außerdem würde das auch nicht die beiden nicht zur Windstärke passenden Reffs im Großsegel erklären. Wer uns auf Noforeignland folgt und auf der Bootsansicht in die allgemeine wechselt, sieht dass unser Buddyboat Fidelis neben uns genauso schleicht. Aber nein, zum Glück hat keins der Boote technische Probleme (dreimal auf Holz geklopft). In diesem Fall liegt des Rätsels Lösung in der Zukunft: wären wir schneller unterwegs, würden wir kurz vor den Gambier am Mittwoch/Donnerstag in ein ziemlich großes Gewittergebiet hineinlaufen. Also lieber die Handbremse anziehen und bewusst langsam segeln. Sutje, wie wir in Norddeutschland sagen. Das ist derzeit hier bei diesen Bedingungen leicht zu machen und (für Nicht-Regatta-Segler) auch ganz angenehm. Leider ist aber wohl trotzdem ein unangenehmer Preis dafür zu zahlen: das Gewitterband gehört zu einem kräftigen Tiefdrucksystem, das nach der Vorhersage südlich der Gambier durchziehen wird.

Wenn wir entsprechend unserer Strategie dessen Durchzug abwarten, schaufelt das (auf der Südhalbkugel ja rechtsdrehende) Tiefdruckgebiet auf seiner Rückseite Südwind zu uns hoch. Wir werden also vermutlich die letzten beiden Tage unserer Passage Wind und Wellen gegenan haben. Aber immerhin: die Corioliskraft funktioniert.

🤓

Etmal 142 sm, gesamt auf dieser Passage bisher 2.425 sm, rechnerisch bis Gambier noch 875 sm.

Essen: Linseneintopf (eins von meinen Lieblingsgerichten) mit mexikanischer Chorizo, lecker!

Und nach dem ganzen theoretischen Kram noch etwas Versöhnliches: so sah heute Morgen um sechs unser Sonnenaufgang aus: