Wiebke hat mir irgendwann seeehr spät – wir hatten schon unser drittes eigenes Boot – erzählt, dass sie von einer Langfahrt träumt seit sie 16 ist. Mich – obwohl seglerisch mit über dreißig Jahren spät berufen und erst durch die seit Kindesbeinen segelnde Wiebke zum Segeln gekommen – hatte der Gedanke zu dieser Zeit auch schon fest im Griff. Segelliteratur hatte sich inzwischen schon so viel angesammelt, dass die weniger oft gelesenen Exemplare in die zweite Reihe verbannt werden mussten. Die Fernwehträume fanden also reichlich Nahrung. Und seglerisch hatten wir uns gemeinsam langsam weiter entwickelt: sieben Jahre mit unserem ersten 7m-Holzboot (einem von Wiebkes Vater selbst ausgebauten formverleimten Burmester-Kasko), dann fünf Jahre auf unserer Nordborg 30 „Lille Blomst“.
Dazu kamen einige Bareboat-Chartertörns in Regionen, die für uns ansonsten mit dem eigenen Boot im Urlaub nicht erreichbar waren. Auch unsere 2012 gekaufte „Blomma“ hatten wir schon so gewählt, dass ein längerer Törn damit in Frage gekommen wäre, es war eine Hallberg-Rassy, eine als Ausstellungsboot quasi neu erworbene HR 342. Aber der Gedanke blieb erst einmal abstrakt. Nur die Törns auf der Ostsee und hoch bis Norwegen gerieten inzwischen länger und anspruchsvoller. Nachtfahrten wurden eingestreut, nonstop Marstal-Åstol, nonstop Schlei-Bornholm, nonstop Schlei-Anholt, so etwas. Auch ein paar Einhandtörns für mich, das Silverrudder 2016.
Schwer zu sagen, wann genau sich aus dem abstrakten Gedanken ein konkretes Ziel geformt hatte, aber jedenfalls machten wir 2014 einen „Fünfjahresplan“, dessen ziemlich klare Sparauflage wir in der Folge auch einhielten. Eine monatlich aktualisierte Excel-Dokumentation half dabei, uns selbst finanziell zu disziplinieren und unsere ziemlich gute berufliche Entwicklung vereinfachte das Ganze zusätzlich.
2015 dann erste berufliche Vorbereitungen: ich verlängerte meinen Vertrag nicht wie angeboten bis 2021, sondern „nur“ bis Mitte 2019. Und noch auf einem ganz anderen Gebiet begannen wir mit einer Vorbereitung: wir fingen an, Spanisch zu lernen.
Im Herbst 2015 trafen uns schlimme Ereignisse in der Familie: meine Mutter starb nach zwei schweren Jahren mit 71 an Krebs und zudem machte die Demenz meines Vaters es erforderlich, ihn in ein Pflegeheim zu geben, er starb im Sommer 2018. Wiebkes Vater war mit 73 an Krebs gestorben. Immer deutlicher wurde für uns, dass wir nicht bis zur Rente mit der Umsetzung unseres Traums warten wollten, sondern vielmehr so früh wie möglich die Langfahrt beginnen.
2016 schauten wir uns erstmals ein Mittelcockpitschiff an und segelten es zur Probe, eine HR 40. Wie von Wiebke erwartet (von mir aber eigentlich nicht) schreckten uns Rollgroß und Rad statt der bis dahin bevorzugten Pinne nicht ab, sondern konnten im Gegenteil überzeugen.
2017 dann der nächste große Schritt: wir schauten uns „echte“ Langfahrtschiffe an, insbesondere Wiebke wollte dafür jetzt doch gerne ein größeres Schiff. Vier Boote in Schweden, Dänemark, Deutschland und Griechenland sahen wir uns an, in Dänemark und Griechenland segelten wir auch Probe. Letztlich überzeugte uns unsere neue „Flora“ auf Korfu: wieder eine Rassy, eine HR 43 MK II, sie hat das gleiche Baujahr wie die Blomma, sah aus und fühlte sich an wie neu. Zudem war sie – letztlich entscheidend – vom Vorbesitzer erst 2015 für eine geplante Atlantiküberquerung mit vielem nachgerüstet worden, was auch uns vorgeschwebt hatte. Radar, Watermaker, Generator, Davits, großes Dinghy mit großem Außenborder, zusätzliche Batterien, Bimini. Die Klimaanlage hätten wir nicht auf der Liste gehabt, aber o.k.
Jetzt hatten wir das richtige Boot für die Langfahrt, aber es lag halt im Mittelmeer. Der Liegeplatz dort war vom Vorbesitzer noch für ein Vierteljahr bezahlt, das wollten wir ausnutzen und erst danach entscheiden, ob wir es wie ursprünglich gedacht per Lkw hoch zur Ostsee holen. Drei Törns im ionischen Meer später war klar, dass aus dem Landtransport so schnell nichts werden würde. Zu sehr verwöhnte die ionische Inselwelt uns Ostseesegler mit kristallklarem Wasser, Sonnenschein und traumhaften Temperaturen, mit Ankeridyllen und Tavernen. Selbst der Saisonabschlusstörn Anfang November mit Stipvisite in Italien war traumhaft.
Die in der Saison gehenden Condor-Direktflüge von Hamburg und Hannover nach Korfu machten die Besuche bei Flora einigermaßen unkompliziert, wenn auch nicht eben günstig.
Besonders aufwändig wurde dadurch allerdings der Transport unserer Sachen zum Schiff, schließlich musste alles im Fluggepäck von maximal jeweils 20 kg mit. So auch z.B. unser altes SUP (18 kg) oder die neu erstandenen Solarpanel, natürlich auch Werkzeug, Klamotten, Bettwäsche, Tauchsachen …
Ende 2017 wollte Wiebke an der Uni kündigen. Etwas Unerwartetes passierte: es ergab sich die Möglichkeit, doch noch nicht zu kündigen, sondern ab Mitte 2018 erst fünf Monate Sabatical und dann drei Jahre Freistellung zu nehmen. Super, ein unerwartetes Sicherheitsnetz.
Anfang 2018 kündigte dann ich mein Ausscheiden zu Mitte 2019 an, auch hier waren wir positiv überrascht von den Reaktionen und dem entgegengebrachten Verständnis. Selbst der gewünschte zusätzliche unbezahlte Urlaubsmonat im Sommer 2018 wurde gewährt. Wir planten einen fünfwöchigen Urlaub durch die griechische Inseln. Quasi eine Einstimmung darauf, mit mehr Zeit zu segeln.
Die nächste Vorbereitung war dann die Teilnahme an einem zweitägigen „Safety at Sea“-Kurs in Elsfleth. Signalmittelgebrauch, Brandbekämpfung, Yachtführung, Leckbekämpfung, Auffrischung des (ohnehin leicht veralteten) Erste-Hilfe-Kurses aus der Führerscheinprüfung und nicht zuletzt praktische Erfahrungen mit dem Einsatz der eigenen Rettungsweste (inclusive Luft ablassen, wieder aufblasen, Licht ein- und ausschalten, Spraycap benutzen), dem Zusammenbleiben und Fortbewegen in der Gruppe, dem Einsatz (und Einsteigen) in die Rettungsinsel bei reichlich Seegang in dunkler Nacht, das Besteigen einer Jakobsleiter und die realistisch simulierte Abbergung auf die Yacht und in den Hubschrauber. Einiges war (theoretisch) bekannt, vieles neu, insbesondere in der Praxis.
Und auch die ersten Listen wurden jetzt gefertigt: Energiebilanz Flora (erst noch ziemlich überschlägig, dann immer präziser), to buy und to do – Liste, Ersatzteilliste. Natürlich machen wir uns auch viele Gedanken um die Ausrüstung (z.B. 2. Autopilot oder Windsteueranlage, Passatsegel, Spibaum-Konfiguration, umschaltbarer Dieselfilter). Trotz der vielen Fotos, die wir von Flora haben zeigt sich, dass viele Details nur vor Ort geklärt werden können und wir bis zum nächsten Besuch nach der Winterpause warten müssen. Das fällt einem so geduldigen Menschen wie mir nicht leicht.
Weitere Vorbereitungskurse kamen hinzu. Im Oktober „Motorenkunde“, im Dezember „Medizin an Bord“, zudem erneuertenn bzw. ergänzen wir ab Januar 2019 unsere Impfungen und beschäftigten uns mit der Vervollständigung unserer Bordapotheke.
Intensiver noch als vorher ohnehin schon verfolgten wir Blogs von Langfahrtseglern, der Fernseher wird außer für die Tagesschau praktisch ausschließlich zum Ansehen der YouTube Vlogs genutzt. Bei Delos, Nike (Steiger) White Spot Pirates, RanSailing und UmaSailing warten wir immer schon auf die neuen Folgen oder arbeiten uns durch den gesamten Vlog, bei einigen anderen schauen wir immer mal wieder rein. Jeder neue Eintrag auf blauwasser.de und Trans-Ocean.org wurde begierig aufgesogen. Putzigerweise entstand dabei mit der Zeit das Gefühl, dass es völlig normal und kein bisschen außergewöhnlich ist, mit dem Segelboot auf Langfahrt zu sein. Die meisten Menschen in unserem direkten Umfeld sehen das anders, aber es wird uns mehr Faszination als Befremden gespiegelt. Das kann aber auch mit unseren leuchtenden Augen zu tun haben, die sich bei dem Thema immer einstellen.
Aber woher kommt eigentlich unsere Lust auf Langfahrt? Jedenfalls bei uns beiden entstammt sie sicher nicht aus Enttäuschung über das „Hier“, dem Gedanken, woanders wäre es „alles besser“. Neugierde dagegen ist sicher dabei, ein bisschen Abenteuerlust, Spaß daran, den eigenen Horizont auch im Wortsinn zu erweitern und hinauszuschieben, (für uns) Neues zu entdecken. Lust am eigenständigen Reisen hatten wir beide schon lange. Bei mir hatte sich das lange im Motorradfahren kanalisiert. Bei Wiebke waren es schon früh auch Fernreisen, etwa durch Indonesien, wo ihr Vater mehrere Jahre arbeitete.
Hinzu kommt, dass wir das Segeln gern mit dem vor einiger Zeit als Hobby entdeckten Tauchen verbinden wollen und uns die Ostsee dabei einfach weniger reizt als wärmere und klarere Gewässer mit mehr und bunteren Fischen.
Was den Zeitpunkt angeht, war neben dem beruflichen Erfolg und der daraus resultierenden finanziellen Reserve auch unsere familiäre Situation in mehrfacher Hinsicht von einigem Einfluss. Einerseits mit Blick auf unsere Eltern, andererseits aber auch wegen unserer ungewollten Kinderlosigkeit. So sehr uns das auch geschmerzt hatte, wir entschlossen uns, nun eben das Beste daraus zu machen. Und dazu gehörte eben auch, jetzt – wo die sechs Patenkinder aus dem Gröbsten heraus waren – unsere großes Maß an Unabhängigkeit auch zu nutzen. Schließlich waren wir in der gar nicht so häufigen Situation, ein Fenster mit der Kombination aus jeweils genügend Zeit, finanziellen Mitteln und (hoffentlich) Gesundheit in Aussicht zu haben.
Segeln kann ein sportlicher Zeitvertreib sein, ein tolles und gleichzeitig entspannendes Outdoor-Hobby, eine klasse Gelegenheit, allein oder mit kleiner Crew Strecke zu machen und trotzdem am Abend mit den Freunden (die man um das Glück perfekt zu machen unterwegs versegelt hätte) am Ankerplatz oder im Hafen zu grillen und zu chillen. Das alles war Segeln für uns in den letzten 20 Jahren, und doch schwang immer auch zugleich noch etwas anderes mit: reisen, Neues entdecken, die eigenen Erfahrungsgrenzen stets ein klein wenig weiter schieben.
Ich glaube, letzteres ist dies auch der eigentliche Grund, warum wir uns – wie so viele andere auch – mit jedem neuen Boot etwas vergrößert haben. Mehr noch als um den Zuwachs an Bequemlichkeit und Ausstattung geht es wohl darum, den möglichen Radius in der begrenzten Zeit von maximal drei Wochen Sommerurlaub zu erweitern. Und jetzt eben deutlich über den „Sommerurlaub“ hinaus. Auch dabei allerdings – vielleicht ist das auch typbedingt – tasten wir uns an das große Ziel erst einmal heran. Der eine Monat unbezahlter Zusatzurlaub sollte es ermöglichen, zuvor unvorstellbar lange FÜNF Wochen am Stück auf dem Boot unterwegs zu sein und trotzdem noch drei weitere kürzere ein- bis zweiwöchige Segelurlaube auf Flora im Jahr 2018 zu verteilen. Das teilt nicht nur die Wartezeit auf den eigentlichen Aufbruch in erträglichere Abschnitte, es erlaubt uns auch, Flora nach und nach noch besser kennenzulernen und vorzubereiten. Tatsächlich aber müssen wir feststellen, dass wir auch in einem langen Urlaub im „normalen Urlaubsmodus“ bleiben und nicht wie vorgestellt schon mal in den „Cruising-Modus“ hineinschnuppern können. Es fällt uns immer noch schwer, länger als ein paar Tage an einem Ort zu bleiben, statt dessen segeln wir durch den Kanal von Korinth in die Ägäis und dann südlich um den Peleponnes zurück nach Korfu. Ein wunderschöner Törn, aber eben weniger die eigentlich angestrebte Langfahrt-Einstimmung. Susanne und Martin, die wir am Anfang und am Ende unseres Törns jeweils im ionischen Meer treffen, sind da offenbar weiter als wir, tauchen tiefer in die besuchten Orte ein, sind entschleunigter. Wir bleiben aber zuversichtlich, dass uns das auch zunehmend besser gelingen wird, wenn wir erst ganz auf das Boot gezogen sind.
Warum überhaupt segeln?
Beim Segeln sind alle Sinne wunderbar berührt. Die Anzahl der Reize scheint reduziert, ihre Intensität dadurch aber um so stärker. Das Auge mag nur Wasser und Himmel sehen, aber das Licht zeigt ungeahnte Nuancen und Reflexe. Der gewohnte Lärm verstummt, jede kleine Veränderung im Plätschern, Gluckern, Gurgeln lässt das Ohr aufhorchen. Land zu riechen, wenn man eine lange Strecke auf dem Meer war, noch bevor man die Küste sieht, lässt uns die Fähigkeiten unserer Nase ganz neu erkennen. Der Wind schmeckt nach Salz, streichelt als leichter Hauch zärtlich unsere Haut oder strubbelt als steife Brise in unseren Haaren. Und alles vereint sich in dem Zauber, über das Wasser zu schweben, zwischen den Elementen, mit den Segeln als Flügel.
Das ist die poetische Seite. Eine sportliche kommt hinzu, die Dynamik der Krängung und der Bewegung in den Wellen, auch ein Gefühl der Ungefiltertheit, der Direktheit mit der man die Elemente spürt, mit der auch jedes Zupfen an den Schoten Wirkung zeigt.
Und dann noch:
Das Zurückgeworfensein auf sich selbst. Die Reduzierung auf eine kleine, überschaubare Welt und zugleich das Gefühl, mit dem eigenen Schneckenhaus die ganze Welt bereisen zu können. Überhaupt die Grenzenlosigkeit des Reisens auf dem Meer. Das Unbekannte, das Abenteuer. Und doch im eigenen Zuhause.