Nun also Großstadt. Nach gut einem Jahr Segeln durch die größtenteils nur spärlich besiedelten Gebiete von Alaska und British Columbia laufen wir mit der Flora in Victoria ein. Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia, Sitz des Parlaments, internationaler Fährhafen und Kreuzfahrt-Terminal.
Und doch: Großstadt ist schon ein bisschen geschummelt. Victoria selbst hat nur rund 80.000 Einwohner im eigentlichen Stadtgebiet, die Metropolregion Greater Victoria kommt aber auf fast 400.000.
Für uns fast ein Kulturschock: mehr Einwohner als Seeotter! 😊
Die Einfahrt mit Flora erfordert denn auch eine andere Art von umsichtiger Navigation. Statt Kelpfeldern auszuweichen sind Fahrwassertonnen zu beachten, wie wir sie bisher noch überhaupt nicht hatten: gelbe Bojen markieren den Trennstreifen für ein- bzw. ausfahrende Yachten, sie sind eng an Backbord zu lassen. Dahinter ist zwar reichlich Platz, aber das ist die Start- und Landebahn für die vielen Wasserflugzeuge, die sich ihre Runway zudem mit den Fähren teilen müssen. Die “Coho” pendelt zwischen dem US-Amerikanischen Port Angeles und Victoria, sie macht im inneren Hafen jenseits der Engstelle fest und muss zu Ausfahrt in diesem Becken auch noch drehen. Als wäre das alles noch nicht genug, flitzen noch reichlich kleine Hafenfähren wie Busse zwischen den verschiedenen Anlegern hin und her, Whalewatchingschiffe und Whalewatching-Zodiacs, außerdem eine Vielzahl von knuffigen Wassertaxis.
Der Revierführer Waggoner warnt: “HEAVY TRAFFIC”, “USE CAUTION”.
Aber da müssen wir durch, denn wir haben einen Platz in der Causeway Marina, ganz drinnen im inneren Hafen.
Und was für ein Platz. In der ersten Reihe, direkt vor dem “Empress”, dem wie ein Loire-Schloss gestalteten Grand Hotel im Stadtzentrum.
Vom Cockpit aus beobachten wir die Menschen (gefühlt: -massen), die zwischen uns und dem Hotel auf der Promenade bummeln, sich von Gauklern, Predigern und Souvenirsverkäufern unterhalten lassen und dann am Ufer weiter zum um die Ecke liegenden Parlament schlendern.
Erstaunlich: vor dem Parlament der einzige von einem Loon gekrönte Totempfahl, den wir bisher gesehen haben. Loon, der Seetaucher, der auch die 1$-Münze (=Loonie) ziert. Loon bedeutet im englischen allerdings auch “Blödmann”. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Auch erstaunlich: das Parlament ist nachts so beleuchtet, dass wir das bei unserem landseitigen Besuch im Winter fälschlich für Weihnachtsillumination gehalten hatten.
Die schöne Innenstadt erscheint englisch, gar “viktorianisch” (konnte nicht widerstehen). Downtown steht unter Denkmalschutz. Schon früh wurden die Geschäftsgebäude in Stein errichtet, Wohnhäuser dagegen in Holz. Aber was heißt früh? Das älteste noch am ursprünglichen Errichtungsort stehende Gebäude der Region ist das Wohnhaus des deutschstämmigen Arztes John Sebastian Helmcken, dessen ältester Teil 1853 errichtet wurde. Helmcken erlangte Bekanntheit vor allem dadurch, dass er die Bedingungen für den Beitritt British Columbias zu Kanada sehr geschickt verhandelte und dabei auch den Bau einer transkontinentalen Eisenbahnlinie zur Voraussetzung machte.
Sein Wohnhaus ist heute Teil des “Royal British Columbia Museum”. Von dem sind wir allerdings etwas enttäuscht. Naturkunde mit überwiegendem Dinosaurier-Anteil, der “Human”-Teil derzeit geschlossen. In einem Schaufenster diverse Totems. Draußen ein Langhans und weitere Totems verschiedener First Nations, leider ohne sinnvolle Beschriftungen oder Erläuterungen. Schade. Da war das sehr gute Museum in Campbell River deutlich aufschlussreicher.
Was wir in Helmckens Haus nicht erzählt bekommen, aber später nachlesen: der Mediziner hat einen wesentlichen Anteil daran, dass die verheerende Pocken-Epidemie von 1862 die in Victoria heimische Songhee-Nation weit weniger heimsuchte als andere Nationen. Mehrere hundert Songhee ließen sich von Helmcken impfen.
Teil des touristischen Pflichtprogramms in Victoria ist “Fisherman’s Warf”. Ein paar Fischerboote liegen tatsächlich noch an den Stegen, aber deshalb kommt kaum jemand hierher. Anziehungskraft haben eher die vielen bunten Hausboote und die – wie Food Trucks, nur eben zu Wasser – schwimmenden Imbissbuden am Rand. Einige der Hausboote sind auf Airbnb verfügbar, die Bewohner werden von den vielen Wassertaxis aber ordentlich durchgeschüttelt.
Wir bleiben noch in Victoria, verlegen uns aber in einen Außenbezirk und ankern außerhalb des Bojenfeldes in der von Villen gesäumten Cadboro Bay vor dem Royal Victoria Yachtclub. Auch belebt, aber ganz anders. Die Mittwochsregatta des Clubs findet draußen vor der Bucht statt und die Ausbildungsabteilung ist ebenfalls ziemlich aktiv: Optis, 420er, 470er und einige andere segeln um uns Ankerlieger herum, ein Feld der 2.4-Klasse ist mit ihren Foliensegeln unterwegs.
Und wir haben einen Logenplatz.